Zeitreise in das New York der späten 70er Jahre - kwerfeldein – Magazin für Fotografie (2024)

In den folgenden Zeilen möchten wir Euch mitnehmen auf eine Zeitreise in das New York der späten 70er Jahre, in die große Zeit der Diskos wie dem Studio 54. Zusammen mit Bill Bernstein werden wir das rote Samtseil passieren und noch einmal die Tanzfläche betreten.

In seinem Buch „Disco: The Bill Bernstein Photographs“ Zeitreise in das New York der späten 70er Jahre - kwerfeldein – Magazin für Fotografie (1) (Reel Art Press, 2015) hat Bill es nicht nur geschafft, beeindruckende Bilder aus dieser einzigartigen Epoche festzuhalten, mehr noch befasst er sich mit den zugrunde liegenden soziokulturellen Faktoren der Diskowelle, ihrer Offenheit gegenüber jedweden Menschen, (Sub-)Kulturen sowie Randgruppen und damit, welche Auswirkungen diese Zeit auf die Gegenwart hat.

Was war der Grund, Dein Diskoprojekt zu starten?

Eines Nachts Ende 1977 bekam ich von „The Village Voice“ den Auftrag, eine Veranstaltung in der Disko „Studio 54“ zu fotografieren. Ich bin bis zu diesem Zeitpunkt noch nie im Studio 54 gewesen und war auch kein besonderer Diskomusikfan. Ich war schon immer mehr ein Rock-’n’-Roll-Fan.

Allerdings war das Studio 54 berühmt und ich war neugierig. Also freute ich mich auf meinen Auftrag. Die Veranstaltung, die ich fotografieren sollte, drehte sich um Lilian Carter (die Mutter des damaligen Präsidenten), die eine humanitäre Auszeichnung erhielt.

Als ich also am berühmten Samtseil ankam, an dem man normalerweise so schwer vorbeikam, ermöglichte mir in dieser Nacht mein Presseausweis den Eintritt. Im Club standen dann Tische und Stühle auf der Tanzfläche mit mehreren hundert Menschen – Männer mit schwarzen Krawatten und Frauen in Kleidern.

Es war ein sehr gehobenes Ereignis und es gab eine Flut Paparazzi um Lilian Carters Tisch herum, als sie neben Andy Warhol und anderen Prominenten saß. Eines meiner ersten Fotos war dann dieses Meer aus Paparazzi, die übereinander kletterten, um ein gutes Foto von ihr zu bekommen.

Diese Aufnahme war für mich persönlich interessanter als die von Lilian Carter. Als die Veranstaltung vorbei war, beschloss ich, noch zu bleiben, weil ich nicht wusste, ob ich jemals wieder ins Studio 54 hineingelassen werden würde.

Ich kaufte zehn Rollen Tri-X-Film von einem Fotografen, der die Veranstaltung gerade verließ und wartete auf dem Balkon das Eintreffen der „Stammgäste“ ab. Was ich dann in dieser Nacht sah, öffnete mir die Augen für eine andere Kultur: Die 60er und 70er Jahre in Amerika waren geprägt von der Bürgerrechtsbewegung, der Frauenbewegung, der Post-Stonewall-LGBT-Bewegung und weiteren.

Es schien, als würden alle diese Bewegungen in Amerika – vor allem in New York City – genau zu eben jener Zeit einen gewissen Punkt erreichten, als auch Diskotheken und Diskomusik populär wurden. Die Disko war der perfekte Ort für all diese Bewegungen, um zusammenzukommen und ihren „Siegestanz“ aufzuführen. Ein Ort, um die Durchbrüche all ihrer Bemühungen zu feiern.

Und so beobachtete ich diese Menschen, wie sie sich nahtlos auf der Tanzfläche im Studio 54 vermischten und mir wurde klar, dass in den Diskotheken in New York City gerade etwas Wichtiges passierte. Ich beschloss, ein persönliches Fotografieprojekt anzufangen und besuchte so viele verschiedene Diskotheken und Clubs in New York, wie ich in den zwei Jahren (von 1977 bis 1979) nur konnte. Das daraus entstandene Werk ist das Buch „Disco: The Bill Bernstein Photographs“ Zeitreise in das New York der späten 70er Jahre - kwerfeldein – Magazin für Fotografie (3).

Was hast Du damals entdeckt, als Du nach der Preisverleihung die Möglichkeit hattest, im Studio 54 zu bleiben? Was war Dein erster Eindruck von den Besucher*innen der Disko?

Eine der ersten Filmaufnahmen dieser Menschen war das Foto des Paars, das auf dem Cover meines Buches abgebildet ist. Später fand ich dann heraus, dass die beiden eigentlich Performancekünstler*innen waren, sie trugen also die unterschiedlichsten Kostüme und hielten sich einfach im Studio 54 auf. Sie waren willkommene Gäste für den Besitzer Steve Rubell.

In dieser Nacht trugen beide einen Smoking. Ich war von ihren Blicken fasziniert und fragte sie, ob ich sie fotografieren dürfte. Sie stimmten zu und ich denke, ich habe dann nur ein oder zwei Bilder gemacht.

Als ich dieses Paar fotografierte, stellte ich sie mir plötzlich als Teil eines Berliner Vorkriegskabaretts vor. Ich hatte den Film „Cabaret“ gesehen und erinnerte mich an die Atmosphäre zwischen den Schauspielern und dem Publikum im Kabarett. Es herrschte eine sexuelle, geschlechterübergreifende Atmosphäre, die mir auffiel. Homosexualität gemischt mit Hetero- und Bisexualität in einer Art Performance.

Und plötzlich sah ich diese Art Bilder eines Vorkriegskabaretts in Berlin überall um mich herum. Da war diese eine Gruppe, die in den Club kam. Im Laufe der Nacht tanzten sie zusammen: Die Jungs tanzten manchmal mit den Jungs und manchmal nahmen sie das Mädchen in die Mitte. Ich kannte sie nicht und ich wusste nicht, in welcher Beziehung sie zueinander standen, aber sie waren diese kleine Gruppe, die zusammen abhing und die in ihrer eigenen kleinen Blase war.

Ich beobachtete sie, als sie auf der Couch saßen und fand es war ein wirklich interessantes Bild. Also hoffte ich, es mit meiner Kamera über die Tanzfläche zu schaffen, ohne dass die Gruppe aufstand und verschwand. Ich ging also auf sie zu, schoss ein paar Fotos und das war es auch. Die Leute fragen mich später oft, ob dieses Bild gestellt war, aber das war es absolut nicht. Sie posierten zwar, aber nicht für mich. Sie posierten schon, bevor ich überhaupt dort war.

Und als ich sie in dieser Nacht beobachte, bemerkte ich, dass sie sich wie die Stars dieses Abends fühlten, als ob die anderen Menschen nur gekommen waren, um sie zu sehen. Sie schienen diese Aura um sich zu haben. Sie waren wie gesagt in ihrer eigenen kleinen Blase.

In den 70er Jahren ging New York durch sehr turbulente Zeiten, vor allem wegen der Finanzkrise und des Wirtschaftsabschwungs. Wie hast Du den Kontrast zwischen dem New York außerhalb der Disko und dem New York in der Disko empfunden?

Das ist eine sehr wichtige Frage. Die Konjunktur New York Citys in den 70er Jahren war schrecklich. Es gab Streiks bei der Müllabfuhr, sodass sich der Müll meterhoch auf den Bürgersteigen türmte. Es gab Budgetkürzungen bei der Polizei und Feuerwehr, so dass die Verbrechensrate extrem hoch war und oft Gebäude bis auf die Grundmauern niederbrannten, weil es nicht genügend Feuerwehrleute gab. Der Gouverneur und der Bürgermeister von New York gingen nach Washington DC, um Geld zu erbitten und der damalige Präsident Ford sagte den berühmten Satz: „New York City soll sich zum Teufel scheren!“

Wirtschaftlich gesehen waren die Zeiten also wirklich schlecht. Aber ein Gutes hatte diese Zeit. Die Mieten waren sehr niedrig, was Künstler*innen aus aller Welt anzog – ähnlich wie in Berlin. Auch hier strömten vor etwa 10 bis 15 Jahren die Menschen aufgrund des möglichen Raums für Kreativität und der billigen Mieten in die Stadt. Die Kreativität in New York begann zu florieren. Eine der kreativsten Zeiten in der Geschichte der Stadt. Und natürlich brauchten diese Leute Orte, an die sie nachts gehen konnten, um sich zu treffen und Spaß zu haben – die Disko war einer dieser Orte.

Gibt es Bilder, die Dir besonders im Kopf geblieben sind und hinter denen sich besonders interessante Geschichten oder Emotionen verstecken?

Eines der Bilder, das mir dabei in den Sinn kommt, ist eine schöne junge Transfrau namens Ava aus dem Club GG’s Barnum Room. Dieser Club hat eine sehr interessante Geschichte: Ursprünglich hieß er Peppermint Lounge und war der Ort, an dem angeblich der Twist seinen Uhrsprung hat. Das war in den 60er Jahren und als die Beatles und die Rolling Stones nach Amerika kamen, mussten sie alle dieses berühmte Wahrzeichen besuchen.

Irgendwann in den 70er Jahren wurde die Peppermint Lounge dann geschlossen und in den GG’s Barnum Room verwandelt, eine Disko, die viele Schwule sowie Transmänner und -frauen anzog. Über die Tanzfläche hinweg war ein riesiges Netz gespannt und von der Decke hing ein Trapez. Die „Disco Bats“, die dort während der Partynacht ihre Zirkus-Akrobatik-Nummern aufführten, waren eine riesige Attraktion in diesem Club.

Nach einer Weile wurde der Club sehr beliebt bei den Downtown- und Uptown-Leuten und zudem eine Tourist*innenattraktion. Auf jeden Fall war es immer sehr lustig, dort zu fotografieren, weil einfach so viel los war.

Ich habe Ava dort oft mit ihren Freund*innen gesehen. Eines Abends nahm ich mir einen Stuhl, setzte mich neben sie und wir hatten ein langes Gespräch. Sie sprach mit einer sehr weichen, femininen, aber leicht kratzenden Stimme. Sie sagte mir, dass sie aus Puerto Rico kommt. Sie spare gerade Geld für eine Operation, da sie „da unten“ immer noch ein Mann sei. Sie erzählte mir außerdem, dass sie eine gute Freundin des Künstlers Salvador Dalí wäre.

Wenn er in der Stadt war, würde er Ava anrufen und sie zum Abendessen mit seinen Freund*innen einladen. Ava war sehr schön und wie ich schon sagte, war es schwer zu erkennen, dass sie als Mann geboren wurde. Sie erzählte, dass Dalí sie dann immer seinen Freunden vorgestellt und seinen kleinen „surrealen Witz“ abgezogen habe, indem seine Freunde Ava mit in ihre Wohnungen oder Hotelzimmer nahmen und dann erst Avas „Geheimnis“ entdeckten.

Ich hatte Mitleid mit ihr und fragte sie, ob es denn für sie in Ordnung wäre, wenn sie Dalís „Witz“ war und ob sie sich mit Dalís Freunden sicher fühlte. Sie sagte mir: „Oh, ich liebe Dalí. Er ist ein wunderschöner Mann, seine Freunde sind auch alle schön – ich habe nichts dagegen.“ Ich fühlte mich ein wenig besser, nachdem sie mir das erzählt hatte.

Das komplette Interview mit Bill Bernstein, der trotz seines großen Erfolges – er war zum Beispiel über 15 Jahre lang der persönliche Tourfotograf von Paul Paul McCartney – so bodenständig geblieben ist, könnt Ihr in Ausgabe #12 von Soul of Street nachlesen. Als PDF, in der Druckausgabe oder kostenlos als E-Paper.

Das Interview wurde auf Englisch geführt und von Lukas Springer ins Deutsche übersetzt.

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