In den späten Siebzigern war das Discoleben von New York verrufen und einflussreich. Der Fotograf Bill Bernstein zog damals mit den Nachteulen – jetzt sind seine Bilder wieder gefragt.
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Vor sich drei Plattenteller, im Rücken eine Wand voller Richard-Long-Verstärker und von rechts schaut ein unfrisierter junger Robin Williams von einem Plakat, das neben der Lüftung an der schwarz gestrichenen Betonwand klebt. So hatte sich Larry Levan seinen Arbeitsplatz eingerichtet, an dem er Ende der Siebziger Nachtschicht um Nachtschicht die Tanzwütigen vor sich hertrieb, bis die Sonne über der „Paradise Garage“ in der King Street in Soho aufging.
Levan gilt als derjenige, der die Kunst des Mixens im modernen Sinne erfunden hat. Heute, 39 Jahre später, ist sein Bild in der Ausstellung „Disco“ zu sehen. Gezeigt wird eine Bildserie des Fotografen Bill Bernstein, die dieser zwischen 1977 und 1979 in den New York Clubs geschossen hat. Darauf zu sehen: viel Haut und schimmernde Spandex-Overalls neben durchgeschwitzten Button-down-Hemden. Viel Sex, viel Flamboyance und wenig Celebritys.
Während sich die Paparazzi im „Studio 54“ um Andy Warhol, Grace Jones oder Bianca Jagger drängten, fand Bernstein seine Protagonisten auf dem Dancefloor, in der Clubtoilette oder hinter den Plattentellern: „Mich interessierten die Nachtmenschen. Das etwas heruntergekommene Mädchen in der Ecke. Der Tänzer, der sich verausgabt und tagsüber als Briefträger arbeitet.“ Seine Fotos bilden eine Zeit ab, in der die ökonomische Krise und Exzesse direkt nebeneinanderlagen – und in der Wall-Street-Banker mit Transgender-Männern- und Frauen feierten, Weiße, Schwarze und Latinos zur selben Musik tanzten, Frauen sich in glamouröse Amazonen verwandelten, jeder mit jedem tanzte, schlief und Drogen nahm.
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„Ich selbst bin aus der Woodstock-Generation“, sagt Bernstein. „Wir dachten, wir wären offen. Aber wenn man genauer hinschaut, waren die meisten Hippies weiße, langhaarige, grasrauchende Bluejeansträger. Da gab es nicht viele Afroamerikaner, keine Dragqueens. Das war eine ziemlich homogene Gruppe. Disco war etwas ganz anderes! Es brachte alle zusammen.“
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An Marc Benecke, dem Türsteher des „Studio 54“, musste man trotzdem vorbeikommen beziehungsweise von ihm ausgewählt werden, wenn er, auf einer Kiste stehend, in die Menschenmasse vor dem Club zeigte. „Ich war nicht cool genug“, sagt der jungenhaft-schlanke 68-jährige Bernstein. Als er für „The Village Voice“ ein Galadinner zu Ehren der Präsidentenmutter Lillian Carter im „Studio 54“ fotografieren durfte, versteckte er sich nach dem Dinner in einer dunklen Ecke und wartete, bis gegen Mitternacht die Nachteulen in den Club strömten. „Ich kaufte einem anderen Fotografen zehn Tri-X-Filme von Kodak ab und begann zu fotografieren.“ Eines seiner liebsten Bilder ist eine Gruppe von vier Männern und einer Frau auf dem Sofa des Clubs.
„Das ist nicht gestellt, ich habe die Gruppe eine gute Stunde beobachtet. Zwei Männer tanzten mit der Frau, dann tanzten zwei der Männer zusammen – es war überhaupt nicht klar, was da los war und wer mit wem. Irgendwann saßen sie in dieser speziellen, mehrdeutigen Formation zusammen, und ich stand auf der anderen Seite des Raums und dachte: Wie komme ich dort hin, ohne dass sich das Bild aufgelöst hat? Ich pirschte heran, nahm die Kamera, knipste und wusste: Das hab ich.“ Ein anderes großartiges Bild dieser Nacht ist ein Paar das im leer gefegten Club unter dem berühmten Neonkunstwerk – ein Halbmond mit Kokslöffel – schmust. „Genommen wurde, was aufputschend wirkt. Zum Runterkommen und für den Sex nach der Party gab’s Quaaludes“, sagt Bernstein.
Neben Aufträgen für Magazine wie „The Village Voice“ oder die amerikanische „Elle“, fotografierte er die Nächte durch und ließ die Bilder morgens von seinem Assistenten entwickeln. Er fotografierte nicht nur in den berühmten Clubs wie „Studio 54“ oder „Xenon“, sondern auch im „Mudd Club“, „Hurrah“, „GGs Barnum“ oder eben Larry Levans „Paradise Garage“.
„Die Atmosphäre im ,Paradise Garage‘ war besonders. Die Gäste waren vor allem schwule Afroamerikaner und Latinos, auch Weiße, aber nicht so viele. Ein großer offener Raum, es gab keinen Alkohol – nur Saft und Obst. Der fruchtig chemische Geruch von Poppers hing in der Luft. Hier ging es darum, bis zum nächsten Tag durchzutanzen.“
Der John-Travolta-Film „Saturday Night Fever“ hatte den Sound dieser Nächte aus dem Underground in den Mainstream geholt, Disco wurde zum Synonym fürs weich gespülte Kommerzielle. Mit dem Aufkommen von Aids um 1981 war das kurze Zeitfenster der Sorglosigkeit vorbei und die Discobewegung endgültig tot. Bernstein spezialisierte sich auf Porträts und arbeitete als Tourfotograf für Paul McCartney und U2. 2015 erreichte ihn ein Anruf aus London: Der Galerist David Hill wollte seine Bildserie als Buch herausgeben. „Zuerst dachte ich: Wen interessiert das heute schon?“
Als er sich hinsetzte, um das Vorwort zu schreiben, beantwortete sich diese Frage von selbst. „Erst verabschiedete der Supreme Court das Gesetz für die Homoehe in allen 50 Staaten. Ein Riesending! Und nur ein paar Monate später wurden Transgender-Frauen und Männer zum Militärdienst zugelassen und in South Carolina wurde die Confederate Flag vom Kapitol ins Museum verbannt“, erzählt Bernstein. „Das war ein Paradigmenwechsel für einen so puritanischen Staat wie die USA. Boom, da hatte ich mein Vorwort! Denn das war etwas, das in den Clubs in den 70ern schon gelebt wurde.“ Zwar nicht am Tag, aber zumindest in den Nächten.
Info: Die Ausstellung „Disco – The Bill Bernstein Photographs – NYC 1977 to 1979“ ist in der Galerie für moderne Fotografie und parallel im „25hours Hotel Bikini Berlin“ zu sehen.
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